"Mein Mann (vice versa 'Meine Frau') erzählt mir jeden Tag Märchen!"
Den Satz höre ich als Erzählerin immer wieder, wenn ich Erwachsene zu einer Märchenstunde einlade. Diese Aussage wertet Märchen ab und stellt es gleich mit alltäglichen Lügengeschichten. Dass diese Aussage an sich falsch ist, woher die Annahme kommt, Märchen seien nur für Kinder und daher 'Kinderkram' und dass Märchen genauso für Erwachsene gut sind, das will ich in diesem Blogartikel erklären.
Sie berichten von Krisen, die überwunden werden und davon, wie ich diese Lebenskrisen überwinden kann, was mir aus meinem Inneren heraus dabei helfen kann. Das Märchen spricht es aber nicht direkt aus - es kleidet sich in schöne Worte, damit jeder Mann und jede Frau die eigene Wahrheit für diese spezielle Situation im Leben herauslesen kann. Das Märchen "Die Wahrheit und das Märchen" erzählt davon. Die Wahrheit aus dem Märchen kann ich dann leichter annehmen und sie bleibt nicht in meinem Verstand, sondern trifft mein Herz und meine Seele. Das Märchen berührt mich tief im Innern, auch wenn ich es vielleicht nicht in Worte fassen kann. Natürlich berührt mich nicht jedes Märchen so tief, dazu braucht es das für den Moment 'richtige' Märchen. Aber es spricht auch nichts dagegen, mit Märchen einfach nur eine gute Zeit zu haben. So viel Quatsch hören und schauen sich Leute am Fernseher an oder streamen im Netz!
Märchen sind Prosaerzählungen ohne Orts- und Zeitangaben. Naturgesetze sind aufgehoben, es wird bilderreich erzählt vom Helden bzw. der Heldin und dem Weg zum Glück. Märchen spenden Optimismus, denn in der Regel enden sie gut. Märchen sind dadurch allgemeingültig und universell. Erzähler war über viele Jahrhunderte ein werter Beruf, war es in Europa und im orientalischen Raum noch viel länger.
Wenn nun jemand behauptet, der Ehemann/die Ehefrau erzähle Märchen, sind damit wohl eher individuelle Geschichten - wenn nicht gar Lügengeschichten - gemeint und keine Märchen im Sinne von Volksmärchen und überlieferten Märchen und Geschichten.
Eine sehr unterhaltsame moderne Form des Geschichtenerzählens ist der Poetry Slam. Ich mag das auch sehr, es ist lustig und nachdenksam, aber es hat nicht dieselbe Bedeutung wie ein Märchenabend, es unterhält, aber diese Autorengeschichten sprechen vor allem meinen Verstand an, weniger mein Herz. Was ich daran mag, ist die Art, wie mit einem ernsten Thema auch leicht sprachlich umgegangen werden kann, z.B. wenn Torsten Sträter über seine Depression spricht. So etwas nehme ich auch als Anregung für mich mit.
In ihrer Vorrede zu der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen stellen Jakob und Wilhelm Grimm dar, dass die Märchen auch für Kinder geeignet sind, dass Eltern die Sammlung als "Erziehungsbuch" nutzen können bzw. sollen. Vielleicht ist der Glaubenssatz, Märchen seien nur für Kinder dadurch entstanden. Aber eigentlich ist es ja umgekehrt: sie haben als erste in Deutschland die Erzähltexte ins Schriftliche geholt und haben dabei diesen Texten ihren Stempel aufgedrückt. Sie schreiben: "...Dabei haben wir jeden für das Kinderalter nicht passenden Ausdruck in dieser neuen Auflage sorgfältig gelöscht..." Denn Märchen wurden schon seit Vorzeiten erzählt, wenn die Familie und Dorfgemeinschaft beisammen war, die Kinder waren auch anwesend wenn erzählt wurde. Und wir müssen uns vor Augen halten, dass Kinder in früheren Zeiten einen anderen Stellenwert hatten als sie es heute bei uns haben.
Märchen wurden von Erwachsenen für Erwachsene erzählt. Die Sammlung der Märchen aus 1001 Nacht geht genau davon aus: Sheherezade erzählt dem König in 1001 Nächten Märchen und Weisheitsgeschichten und unterhält ihn damit so gut, dass sie ihrem Tod entgeht.
Wie komme ich jetzt darauf? Ich habe eine Sucht, nämlich die Sucht nach esoterischen Zeitschriften: Herzstück, Happinez und wie sie alle heissen. Manchmal tauchen darin Artikel über Märchen auf, die Wichtigkeit des Themas ist also den RedakteurInnen bewusst. Aber immer gibt es Artikel über Lebensthemen, die ebenso in Märchen behandelt werden. Große Lebensthemen, die Suche nach dem Glück und innerer Zufriedenheit. Nach dem richtigen Partner und wie ich mich selbst lieben lerne. Märchenthemen.
Die Anzahl dieser Zeitschriften hat in den letzten Jahren zugenommen, für mich ein Zeichen, dass der Bedarf an Antworten zu den behandelten Themen größer wird. Statt also immer wieder das Reden darüber wiederzukäuen könnte jeder Mann und jede Frau genauso ein Märchenbuch aufschlagen und das für sich 'richtige' Märchen herausfinden. Wie man das findet, erzähle ich weiter unten.
Überraschung! zeigen so manche erwachsenen Gesichter, wenn die Eltern bei einer Märchenstunde für Kinder dabei sind. Um festzustellen, dass das für sie selbst richtig schön war, unterhaltsam oder lustig oder spannend. Also, ihr Erwachsenen, besucht mehr Märchenveranstaltungen!
In der Zeitschrift SERVUS war lange Jahre in jeder Ausgabe ein Märchen abgedruckt - in spezieller Köhlmeier-Erzählfassung. Und die Märchenzeitschrift "Märchenforum" gibt dem erwachsenen Verstand Hintergrundwissen und Nahrung, und verweist auf den Kinderseiten auf spezielle Märchen nicht nur für Kinder. Und damit genug mit den Zeitschriften...
Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen - Erwachsenen, damit sie aufwachen.
Dieses Zitat von Jorge Bucay trifft es nicht ganz genau. Es leuchtet ein, dass Kinder Märchen brauchen, um daran zu wachsen, erwachsen zu werden. Auch Märchen im Seniorenheim sind ganz anerkannt.
Aber kennst duTrauer- und Hospizarbeit mit Märchen? Oder Coaching und Selbsterfahrung mit Märchen? Man kann anhand eines Märchens Heilung in verschiedenen Phasen des Lebens erfahren. Das Märchen bleibt dann nicht Fantasie, es wird Wahrheit und im Alltag fassbar.
Kürzlich habe ich das Buch 'Die Königin, die unter dem Tisch sass und weinte' von Ildikó Boldizsár regelrecht verschlungen. Eine Therapeutin, die so viele Märchen kennt, dass sie im Geist das passende Märchen aussucht, während der Klient von seinem Problem berichtet. Und sie behauptet von sich, das Märchen dann spontan frei erzählen zu können. So weit bin ich noch lange nicht. Interessant sind die verschiedenen Lebenssituationen, die ihre Klienten mitbringen in die Therapie und der Fakt, dass sie ganz einfach eine riesige Menge an Märchen und Geschichten kennt.
Das heißt: ich muss lesen, oder anderen ErzählerInnen zuhören. Dann kenne ich auch so viele Märchen. Und um einen Punkt von oben aufzugreifen:
In meiner Erzählausbildung war im dritten Grundlagenseminar Aufgabe, ein selbst gewähltes Märchen aus der Sammlung der Brüder Grimm vorzubereiten und frei zu erzählen. Da stehen 200 Märchen drin, und das nur in der Ausgabe letzter Hand. Es werden noch mehr, wenn man die Märchen dazuzählt, die 'rausgeflogen' sind. Wie soll ich da das EINE finden, das ich auch erzählen WILL, ohne alle lesen zu müssen? Rein aus zeitlichen Gründen. Verschiedene Strategien führten letztendlich zum Ziel: meine Lieblingsmärchen aus Kindertagen gelesen. Das Buch zufällig aufgeschlagen und dieses Märchen gelesen. Das Inhaltsverzeichnis durchstöbert und nachgefühlt, was mich anspricht.
'Die Gänsehirtin am Brunnen' habe ich erzählt. Es war mein Märchen und hat mich lange Zeit begleitet. Und warum? Wegen einem kurzen Satz in diesem langen Märchen: "...Aber ich muß wieder von dem König und der Königin erzählen, die mit dem Grafen ausgezogen waren und die Alte in der Einöde aufsuchen wollten..." Mein Herz rumpelte und klopfte stark. Das war, was ich mir von meinen Eltern immer gewünscht hatte, dass sie sich auf den Weg machen, um mich zu finden. Ein sehr persönliches Thema. Aber so geht es mir jedesmal, wenn ein Märchen mich persönlich trifft: Herzklopfen oder eine Sehnsucht stellt sich ein. Ich muss es gar nicht in Worte fassen können. Aber dann kann ich gewiss sein, dass in diesem Märchen, das ich gerade lese oder höre, mein derzeitiges Lebensthema symbolhaft versteckt ist. Und wenn ich will und bereit dazu bin, dann kann ich den Schatz heben und anhand des Märchens heilen.
Kinder verstehen die Symbolsprache der Märchen noch intuitiv, für uns Erwachsene braucht es mehr Einsatz und Bereitschaft, uns darauf einzulassen. Es gibt sicher auch einige, die nicht dazu bereit sind, die an der Oberfläche bleiben wollen, denen es sogar Angst macht, so berührt zu werden. Und deshalb Märchen als Kinderkram abtun. Was sie aber nicht sind:
Märchen sind heilsame Geschichten für Kinder und Erwachsene.